Ostukraine: Noch immer herrscht Krieg in Europa
Krieg – „Das ist, wenn Leute schießen. Und andere Leute erschießen die, die zuerst geschossen haben. Wenn sie anfangen zu schießen, weckt uns Mama auf und wir gehen auf den Flur. Wenn sie stoppen, gehen wir wieder schlafen”, schildert der kleine Stanislav seine Eindrücke. Er lebt mit seiner Familie in der Stadt Krasnohorivka, unweit von Donezk.
Im November 2013 begannen die pro-europäischen Proteste auf dem Maidan in der ukrainischen Hauptstadt Kiew als Reaktion auf die Weigerung des damals amtierenden Präsidenten Viktor Yanukovych, ein Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU zu unterzeichnen. In den darauffolgenden monatelangen Protesten, die als einfache Studentendemonstrationen begannen und sich zunehmend auch gegen andere Missstände innerhalb des Landes wie Korruption und Misswirtschaft richteten, wurde die Regierung unter Yanukovych abgesetzt. Als Antwort darauf annektierte Russland die Halbinsel Krim und der Krieg im Osten der Ukraine, der bis heute andauert, begann.

Seit Anfang 2014 stehen sich in den Regionen Donezk und Luhansk von Russland mit Waffen und Kämpfern unterstützte pro-russische Separatisten, ukrainische Truppen sowie eine Vielzahl ukrainischer Freiwilligenbataillone gegenüber. Eine 450 km lange Front, die sogenannte Kontaktlinie, trennt sie. Trotz Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, den Konflikt zu schlichten, gehen die Kämpfe weiter. Doch auch die 21. Waffenstillstandsvereinbarung hält nicht und wird täglich gebrochen. Allein im Zeitraum zwischen dem 20. April und 3. Mai zählten die unabhängigen Beobachter der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, insgesamt 9.800 Verstöße gegen das aktuelle Waffenstillstandsabkommen, darunter 2.750 Explosionen.
Tragische Konsequenzen nach 6 Jahren Krieg
💥 Insgesamt sind 5,2 Millionen Menschen von diesem Krieg betroffen.
💥 Mehr als 1,4 Millionen Menschen wurden als Binnenflüchtlinge registriert. Mindestens ebenso viele sind vor Krieg und Armut ins Ausland geflüchtet, vorwiegend nach Russland, Weißrussland und Polen.
💥 Mehr als 13.000 Menschen, davon ein Viertel ZivilistInnen, wurden getötet.
💥 Mehr 30.000, davon mehr als 7.000 ZivilistInnen, wurden verletzt.
💥 Mehr als die Hälfte der Kinder, die seit 2014 in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk geboren wurden, verfügen über keine ukrainische Geburtsurkunde, was ihnen den Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen erschwert. Ihnen droht die Staatenlosigkeit.

Mehr als eine Million Menschen überquert jeden Monat die Kontaktlinie an fünf zugelassenen Kontrollpunkten. Viele ältere Menschen sind dazu gezwungen, weil sie ihre bescheidene Pension, ihre einzige Einkommensquelle, nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abholen können. Die Reise über die Kontaktlinie ist beschwerlich und gefährlich. Abgesehen von stundenlangen Wartezeiten sind die Checkpoints nicht ausreichend ausgestattet. Aufgrund diversen Komplikationen kam es dort in den vergangenen zwei Jahren zu 90 Todesfällen.
Die aktuelle Minensituation in der Ukraine
Laut Landminenmonitor 2019 belegte die Ukraine 2018 Platz fünf der Länder mit den meisten Opfern von Landminen und explosiven Kampfmittelrückständen. Aufgrund andauernder Kriegshandlungen gestaltet sich die Erhebung verlässlicher Daten derzeit jedoch als große Herausforderung.
💥 Geschätzte 7.000 km² innerhalb des Landes gelten dem Bericht zufolge als von Landminen verseucht. Allerdings ist es aufgrund anhaltender Gefechte und der Behinderung durch die pro-russischen Separatisten nicht möglich, das genaue Ausmaß der Verminung auszumachen.
💥 Die sogenannte Kontaktlinie gilt als besonders stark vermint. Das Verlassen der Straßen, die zu den fünf Grenzübergängen führen oder gar das Überqueren der Kontaktlinie abseits der offiziellen Checkpoints ist daher besonders gefährlich. Immer wieder kommt es dort zu Minenunfällen.
💥 Ca. 3,5 Millionen Minen sollen sich aktuell noch im Besitz der Ukraine befinden, obwohl sich diese als Mitgliedsstaat des Minenverbotsvertrags (Ottawa-Abkommen) dazu verpflichtet hat, alle nationalen Bestände an Minen zu vernichten.
💥 Schätzungen zufolge bedrohen Landminen bis zu zwei Millionen Menschen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Diese Menschen sind stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und können weder ihr Ackerland bestellen, noch Feuerholz sammeln oder angstfrei zur Schule oder Arbeit gehen.
💥 Seit 2014 sind mehr als 1.000 Menschen durch Minen oder explosive Kriegsreste ums Leben gekommen.
💥 Die international ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen sind brüchig und werden täglich verletzt. Allein im Zeitraum zwischen dem 20. April und 3. Mai 2020 zählten die unabhängigen BeobachterInnen der OSZE insgesamt 9.800 Verstöße.
Das Coronavirus in der Ostukraine – Leben im doppelten Ausnahmezustand

Schon vor der Bedrohung durch das Coronavirus, hatte das ukrainische Gesundheitssystem mit tiefgreifenden Defiziten zu kämpfen. Die aktuelle Gesundheitskrise stellt es vor teils unüberwindbaren Herausforderungen. Es fehlt an allem: Masken, Schutzausrüstung für medizinisches Personal, sauberem Trinkwasser, Desinfektionsmittel und im Osten des Landes auch an Nahrung und Bargeld.
Besonders im Osten ist die Lage dramatisch. Aufgrund der aktuellen Einschränkungen wurde der öffentliche Verkehr komplett eingestellt. Darüber hinaus ist es den Menschen nicht möglich, die Grenzübergänge an der Kontaktlinie wie gewohnt zu nutzen. Zwar können sie von einem Gebiet ins andere reisen, jedoch vorerst nicht wieder zurück. Vor allem für ältere Menschen, die 41 % der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten ausmachen und auf ihre Pensionen angewiesen sind, ist dies ein ernstes Problem und verschärft ihre ohnehin schon kritische Situation.

Während die wirtschaftlichen Gegebenheiten sich zunehmend verschlechtern und die Nahrungspreise steigen, steigt auch die häusliche Gewalt in Folge der Ausgangsbeschränkungen. In Donezk war ein Anstieg um 40 % und in Luhansk um 60 % zu verzeichnen. Die Coronavirus-Krise gefährdet insbesonders jene Kinder in den Konfliktregionen, deren familiäres Umfeld durch Armut oder Drogen- und Alkoholmissbrauch bereits vor der Krise zerrüttet war. Da Schulen und andere soziale Einrichtungen zurzeit geschlossen bleiben, sind sie weitestgehend auf sich allein gestellt und familiärer Gewalt oft schutzlos ausgeliefert. Zudem verfügen 60 % der Kinder, die an der Kontaktlinie leben, nicht über die technischen Mittel, um einem Online-Unterricht zu folgen. So sind sie praktisch vom Unterricht ausgeschlossen und werden dadurch einen erheblichen Teil des aktuellen Schuljahres verpassen.
Der Weg zum Frieden ist noch weit
Auch die allgemeine Menschenrechtssituation in den besetzten Gebieten ist kritisch. Es reicht bereits das Verteilen von Flugblättern, um im Gefängnis zu landen. Zwar gibt es unter dem derzeitigen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyj erneute Annäherungsversuche der Konfliktparteien in Form von Truppenrückzügen und dem Austausch von Gefangenen, doch eine endgültige Lösung des Konfliktes ist nicht in Sicht. Selbst wenn die Waffen irgendwann niedergelegt werden, so hat die ukrainische Gesellschaft noch viele Jahre der Bewältigung des kollektiven Kriegstraumas vor sich. Schon jetzt gestaltet sich die Reintegration heimkehrender KriegsveteranInnen als schwierig. Die Familien der SoldatInnen leiden mit: „Das war eine wirklich prägende Erfahrung für unsere Familie, für unseren Sohn. Du bist eine Frau des 21. Jahrhundert, die darauf wartet, dass dein Mann aus dem Krieg zurück kommt. Das ist etwas, das dein Leben komplett verändert“, erinnert sich die Regisseurin Iryna Tsilyk.
Viele UkrainerInnen sind des Krieges müde, befürchten jedoch, dass ihr Präsident zu weitreichende Zugeständnisse an Moskau machen könnte. Offiziell bestreitet Russland bis zum heutigen Tag, eine aktive Konfliktpartei zu sein und präsentiert sich auf internationaler Ebene stattdessen als Vermittler im ukrainischen „Bürgerkrieg“.
Der Weg zum Frieden ist noch weit. Zusammen mit unserem langjährigen Partner FSD verfolgt GGL das Ziel, die Menschen in der Ostukraine Schritt für Schritt auf diesem beschwerlichen Weg zu begleiten.